News Regio-Interview

12.01.2021

Regio-Interview - Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik im Gespräch

Zehn Fragen an Rémy With, Erster Vizepräsident der Collectivité européenne d’Alsace (CeA)

Hinweis: Das Interview wurde im Dezember 2020 geführt. 

Was ist Ihre Verbindung zur Dreiländerregion am Oberrhein?

Wie Sie vielleicht wissen, bin ich Sundgauer und wohne dementsprechend nur 15 Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt. Der Sundgau und im grösseren Kontext das Elsass, sind Teil des Einzugsgebietes des Dreiländerecks. Am Oberrhein haben wir fast 100’000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger, Hunderte von binationalen Familien. Jeden Tag bewegen sich Zehntausende unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger frei in und zwischen den drei Ländern. Wir halten also eine starke Verbindung aufrecht und es ist daher für alle Elsässerinnen und Elsässer vollkommen legitim, sich über den Rhein und die nationalen Grenzen unserer jeweiligen Länder hinaus zu projizieren. Deshalb ist die Zusammenarbeit mit unseren Schweizer und deutschen Nachbarn so wichtig. Ich würde sogar sagen... so natürlich. 

Warum haben Sie sich entschieden, in der regionalen Politik im Haut-Rhin aktiv zu werden? 

Ich bin schon sehr früh in die Politik eingestiegen, allerdings völlig zufällig. Das war im Jahr 1971. Mit ein paar Freunden haben wir beschlossen, eine Liste zusammenzustellen, um zu versuchen ein paar junge Leute in den Gemeinderat meines Dorfes Altenach zu bekommen. Wir waren selbst von unserem Sieg überrascht. So fand ich mich als Bürgermeister wieder - mit 21 Jahren und 3 Monaten der Jüngste in Frankreich zu dieser Zeit. 1979 wurde ich in das Departement Haut-Rhin gewählt und bin seither ohne Unterbrechung wiedergewählt worden. Ich verliess das kommunale Berufsleben freiwillig nach fünf Wahlperioden im Jahr 2001, als ich Erster Vizepräsident der Assemblée départementale wurde, in der Überzeugung, dass die Summierung von Mandaten unvereinbar war mit einer zuverlässigen Arbeit vor Ort, die die Erwartungen und Hoffnungen der Menschen erhört. Heute schätze ich es, zu den glücklichen Personen zählen zu dürfen, die die Vereinigung des Conseil départemental du Haut-Rhin und des Conseil départemental du Bas-Rhin begleiten dürfen. 

Wie kann die Collectivité européenne d’Alsace (CeA) zur Festigung der elsässischen Identität beitragen? 

Wie Sie wissen, haben wir nach der institutionellen Reform der Regionen im Jahr 2015 eine wachsende und starke «Sehnsucht nach dem Elsass» in unserer Bevölkerung gespürt. Die Schaffung der Region Grand Est und damit das institutionelle Verschwinden des Elsass wurde von den Elsässerinnen und Elsässern schlecht aufgenommen, die einen grossen Mangel an politischer und bürgerlicher Nähe empfanden. 

Mit der Gründung der CeA wollen wir eine Antwort auf den starken Willen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger geben und unser Gebiet in seinem rheinischen und europäischen Umfeld verankern. Diese neue Collectivité wird gleichbedeutend sein mit grösserer Offenheit und Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn im Einklang mit dem humanistischen Erbe, das uns die Geschichte vermacht hat.

Welche der Kompetenz der CeA sehen Sie als die Wichtigste an? 

Neben der Solidarität, die unsere Kernaufgabe ist, ist es die ausgewogene Entwicklung unserer Gebiete, die wir durch eine bürgernahe Politik und die Unterstützung von Investitionen der Gemeinden und interkommunalen Gremien sicherstellen wollen. Bürgernähe ist meiner Meinung nach der essenzielle Garant für die Wirksamkeit öffentlichen Handelns, ja sogar für dessen Glaubwürdigkeit und Legitimität. 

Wie schätzen Sie die Bedeutung der CeA für die Oberrheinregion ein? Was bedeutet das konkret für die grenzüber-schreitende Zusammenarbeit am Oberrhein? 

Die CeA erhält neue, für das Elsass massgeschneiderte Kompetenzen, darunter die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Entwicklung der Zweisprachigkeit.

Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit war für unseren Conseil départemental, unsere regionale Verwaltungseinheit, schon immer wichtig. Jetzt ist sie eine eigenständige Kompetenz der CeA, wie es das Elsass-Gesetz vorsieht. Damit erhält die CeA eine Vorreiterrolle bei den französischen Gebietskörperschaften im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit am Oberrhein. Für uns ist dies eine echte Anerkennung der Rolle des Elsass als Pilotgebiet für die Zusammenarbeit in diesem geografischen Raum. Auf diese Weise wollen wir die wichtige Rolle des Oberrheins im Herzen Europas besser verteidigen, aber auch Strasbourgs Position als europäische Hauptstadt stärken. 

Die CeA wird dazu beitragen, die Politik im Elsass und am Oberrhein zu vereinfachen. Sie wird uns ermöglichen, noch bürgernäher zu agieren, und zwar in enger Zusammenar-beit mit unseren deutschen und schweizerischen Nachbarn.

Welche Projekte und Massnahmen sollen im Rahmen der neuen Kompetenzen der CeA durchgeführt werden? Welche zukünftigen Schlüsselprojekte der Zusammenarbeit haben für Sie die höchste Priorität?

Meiner Meinung nach wird es uns dank der alltäglichen Projekte gelingen, die Bande, die uns verbinden, zu stärken. Wir müssen Brücken bauen, buchstäblich und im übertragenen Sinne! Ich denke dabei an alles, was den Alltag der Bürgerinnen und Bürger unseres Einzugsgebietes erleichtern kann: die Mobilität, die Bahnverbindungen und die grenzüberschreitenden Radwege. Dies gilt ebenfalls für den Bereich der Gesundheit. Durch eine bessere gesundheitliche und medizinisch-soziale Zusammenarbeit werden wir in der Lage sein, Patientinnen und Patienten auf beiden Seiten des Rheins umfassend zu unterstützen. Es gibt zudem, und ganz grundlegend, Schüleraustausche, Städte-, Dorf-, Schul- und Vereinspartnerschaften. Schliesslich wird die CeA in die Mehrsprachigkeit am Oberrhein investieren. Wir leben in einem gemeinsamen Lebensraum. Wenn wir die gleiche Sprache sprechen, kommen wir uns im Alltag leichter näher.

Wir haben bereits zahlreiche Projekte in diesen verschiedenen Bereichen durchgeführt. Dank unserer Stratégie OR (OberRhein) seit 2019 im Besonderen. Diese Strategie wird in dem Schéma Alsacien de Coopération Transfrontalière (SACT) weiterentwickelt, das der CeA als Fahrplan für die Unterstützung der Umsetzung grosser Strukturierungsprojekte für den Oberrhein dienen wird. Mit diesem Fahrplan, den das Gesetz uns ermöglicht, wollen wir grenzüberschreitende Gewohnheiten im täglichen Leben unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger verankern.

Wie schätzen Sie die Unterstützung der CeA durch die Partner in Deutschland und der Schweiz ein?

Während der bisherigen Austausche habe ich starke Unterstützung und viel Wohlwollen von unseren deutschen und schweizerischen Freunden gespürt. Die CeA verkörpert eine Vereinfachung in der französischen Institutionenlandschaft. Dank der neuen Kompetenzen, aber vor allem dank unseren Bemühungen, werden wir die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn vertiefen und stärken. Die Entstehung der CeA wird uns noch näher an sie heranbringen. Unsere besondere Beziehung basiert auf dem gemeinsamen historischen und kulturellen Erbe, aber auch auf der jahrzehnte-langen Zusammenarbeit. Diese soliden Grundlagen werden uns helfen, die grossen Projekte von morgen zu realisieren. 

Welche Herausforderungen sehen Sie im ersten Jahr auf die CeA zukommen?

Die CeA wird sich mehreren grossen Herausforderungen stellen müssen. 

Im grenzüberschreitenden Bereich werden wir unsere Aktivitäten intensivieren und insbesondere unsere Arbeit zur Erstellung des Schéma Alsacien de Coopération Transfrontalière (SACT) im Elsass, unserer Roadmap, vorantreiben, welche Abschnitte über die Strukturierung von Projekten, Mobilität und Gesundheit enthalten wird. Es bedarf einer Fülle von konkreten Projekten, die das Leben und die Zukunft des Oberrheingebietes prägen werden.

Darüber hinaus wird es vor allem notwendig sein, die Herausforderungen der Gesundheits-, Wirtschafts- und Sozialkrise weiterhin zu bewältigen. Als Autorität im sozialen Bereich bereitet sich unsere neue Gebietskörperschaft auf einen Anstieg von Situationen der Unsicherheit und Ausgrenzung vor. Besonders die Situation junger Menschen zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Junge Menschen werden wahrscheinlich die ersten Opfer der entstehenden Wirtschaftskrise sein. Als gewählte Vertreterinnen und Vertreter, die sich ernsthaft um die Zukunft der jungen Bevölkerung sorgen, müssen wir weiterhin ihre Entfaltung, ihren Erfolg und ihre Eingliederung in die Berufswelt fördern. Wir werden alles tun, um sicherzustellen, dass sie nicht die Generation sind, die dieser Gesundheitskrise zum Opfer fällt.

Insgesamt werden die Schlüsselwörter der CeA Nähe, Effizienz, Bürgerschaft und natürlich Solidarität sein. Es ist möglich, dass wegen des Coronavirus noch einige schwierige Zeiten auf uns zukommen, aber wir werden sie überwinden, indem wir den Kurs beibehalten.

Das Jahr 2021 wird zudem von den Wahlen und der Erneuerung der elsässischen Regionalräte geprägt sein, aus denen die Versammlung der CeA zusammengesetzt ist. 

Könnte das Elsass als eine Laborregion für Europa gesehen werden? 

Ich weiss, dass wir im Oberrheingebiet die Werte eines starken Humanismus teilen. Unser gemeinsames Ziel ist es, das Europa des täglichen Lebens mit und für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger zu gestalten. Dieses Europa wird auch durch kleine Errungenschaften aufgebaut werden, durch «faktische Solidarität», wie Robert Schuman sagte. Wir müssen uns daher fragen, was wir auf unserer Ebene konkret tun können, um unsere Länder einander näher zu bringen. Es liegt an uns, Brücken zu bauen und unsere Beziehungen zu unseren Nachbarn zu stärken. Dies sind der Ehrgeiz und das Herzstück der CeA. Dank unserer geographischen Lage am Knotenpunkt der drei Länder, dank unserer Geschichte und dank der grossen europäischen Rolle Strasbourgs ist das Elsass von Natur aus dazu berufen, ein Laboratorium für Europa zu werden.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der CeA? 

Wie ich zu sagen pflege, wird die Collectivité auf ihren eigenen zwei Beinen gehen müssen: ein Unterelsässiches und ein Oberelsässisches, ohne jemals zu hinken und ohne jemals zu stolpern. 

Ich möchte, dass die CeA die Gebietskörperschaft aller Elsässerinnen und Elsässer wird. Und sie wird es sein, weil sie die Werte verkörpern kann, die seit jeher die Stärke des Elsass ausmachen, insbesondere den Geist der Solidarität, den Unternehmergeist und das Gespür für Exzellenz und Engagement. Sie wird die Collectivité der Gleichheit, des Gleichgewichts und der Komplementarität der Gebiete sein, vom Sundgau bis zum Hagenauer Wald, von den Ufern des Rheins bis zu den Gipfeln der Vogesen, vom kleinsten Dorf bis zu den Ballungsräumen von Colmar, Mulhouse und Strasbourg. Ich wünsche mir, dass sie dynamisch, innovativ, kreativ und offen gegenüber ihren deutschen und schweizerischen Nachbarn ist. Das ist das Elsass, das ich mir wünsche.

Herzlichen Dank für das Interview! 

Fotoquelle: Sébastien Sutter – Collectivité européenne d‘Alsace. 

Als PDF downloaden

Zurück