Carte Blanche

21 juillet 2021

«Mehrsprachigkeit am Oberrhein – Kompetenz, Kultur, Kohäsion»

Alemannische Dialekte am Oberrhein
Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Auer, Direktor der Forschungsstelle Sprachvariation in Südwestdeutschland und Professor für Germanische Philologie am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Das Alemannische zeichnet sich dadurch aus, dass es heute in sechs verschiedenen, aneinandergrenzenden Ländern gesprochen wird: in Vorarlberg in Österreich, in der deutschsprachigen Schweiz, in Baden-Württemberg und Bayern in Deutschland, im Elsass in Frankreich, dazu kommen Liechtenstein und einige kleine alemannische Sprachinseln in Italien. Abgesehen von Liechtenstein, wo sie derjenigen in der Schweiz ähnelt, ist seine soziolinguistische Situation in all diesen Ländern ganz unterschiedlich. Das kann man besonders gut im Dreiländereck beobachten, wo Frankreich, Deutschland und die Schweiz aneinandergrenzen, denn obwohl überall alemannisch gesprochen wird, führt einem jeder Grenzübergang vor Augen, dass die Regeln des Dialektgebrauchs in den drei Ländern ganz anders sind. 

In der Schweiz beherrschen die Dialekte die Alltagssprache, und nur in wenigen, formellen Situationen (sowie in der Interaktion mit Ausländern) wird auf das Hochdeutsche ausgewichen. Das Hochdeutsche ist lediglich bei offiziellen Schreiben (schon nicht mehr in den sozialen Medien oder bei Kurznachrichten) dominant. Allgemein wird es von den Deutschschweizern oft eher als eine Zweitsprache empfunden, mit der man sich nur wenig identifiziert und die man in der Schule zusammen mit dem Schreiben eher mühsam erwirbt. 

Völlig anders ist die Situation in Südwestdeutschland, wo die Dialekte zwar noch existieren, ein hohes Prestige und auch im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands (noch) eine relativ starke Stellung haben. Man merkt aber als Elsässerin oder Deutschschweizer sofort: die traditionellen Dialekte sind sehr stark abgebaut worden und nur noch bei Älteren (und eher auf dem Land) zu hören. Wenn Menschen in Deutschland von sich sagen, sie sprechen alemannischen Dialekt, kann das oft heissen, dass sie nur noch ein paar Dialektmerkmale verwenden. Das reicht, um symbolisch regionale Zugehörigkeit auszudrücken. Das mag man bedauerlich finden, aber dafür wird dieser «Ausgleichsdialekt» flexibel eingesetzt und passt in vielen Situationen. Auch in der Öffentlichkeit ist ein solches «Alemannisch light» akzeptiert. Bei entsprechendem Anlass verschiebt man seine Sprache dann durchaus gern noch etwas mehr in Richtung Dialekt, bei offiziellen Anlässen bemüht man sich um ein möglichst regionalismenfreies Hochdeutsch. Diese Anpassungsfähigkeit der regional geprägten Sprache ist ein zentrales Merkmal der Dialektsituation in Deutschland. Allerdings gibt es auch in Südwestdeutschland inzwischen viele Kinder, die (schon) nur noch mit «Hochdeutsch» aufwachsen. Für sie ist dieses «Hochdeutsch» in allen Situationen einsetzbar, sie kontrastiert nicht mehr mit dem Dialekt. Die Linguistik spricht deshalb auch schon seit langem nicht mehr von «Hochdeutsch», sondern von einer deutschlandweit gültigen «Standardsprache», die nichts «Hohes» mehr hat und eher eine Sprache ist, die überall und für jeden Gesprächspartner passt. 

Wieder völlig anders ist die Situation im Elsass. Dort haben sich die Dialekte – anders als in Deutschland, eher vergleichbar mit der Deutschschweiz – an sich kaum verändert. Die Elsässer verwenden (wenn überhaupt) einen sehr traditionellen Dialekt. Zu diesem Dialekt gehören natürlich viele Entlehnungen aus dem Französischen, die es schon seit langer Zeit gibt. Die elsässisch-französische Bilingualität führt dazu, dass im Gespräch oft ins Französische gewechselt wird, nicht selten mitten im Satz. Aber ganz anders als in der Schweiz und in Deutschland sind die Möglichkeiten, Elsässisch zu sprechen, sehr eingeschränkt. Dafür ist nicht (wie in Deutschland) das Standarddeutsche verantwortlich, denn das spielt im Elsass seit dem Zweiten Weltkrieg nur noch eine Rolle als Fremdsprache. Vielmehr ist es die übermächtige Stellung des Französischen, das in allen öffentlichen Situationen und auch im Gespräch mit Fremden obligatorisch ist. Das Elsässische ist auf den engen Familien- und Freundeskreis beschränkt. Wer ins Elsass fährt, hört deshalb kaum Elsässisch, wenn er nicht Zugang zu einer Familie hat. Der starke Zuzug von Franzosen aus anderen Landesteilen spielt natürlich ebenfalls eine Rolle. So geht die Zahl der aktiven Sprecherinnen und Sprecher sehr stark zurück. Leider scheinen auch Initiativen zur Pflege und Wiederbelebung des Elsässischen in den jüngeren Generationen nicht viel zu fruchten, so dass die Zukunft des Elsässischen nicht gerade rosig aussieht. Trotzdem leben Totgesagte ja bekanntlich länger, und ich persönlich glaube, dass diese Form des Alemannischen noch nicht verloren ist.

Das Alemannische in der Schweiz, in Deutschland und in Frankreich hat also jeweils einen ganz unterschiedlichen Stellenwert für die Sprecherinnen und Sprecher sowie für die Gesellschaft. So hat man trotz der Zugehörigkeit zum gemeinsamen alemannischen Dialektraums im Dreiländereck oft den Eindruck, dass man ein ganz anderes «Sprachregime» betritt, wenn man die Staatsgrenzen überschreitet. Ein Indiz dafür ist vielleicht auch, wie Immigranten sich dem Dialekt gegenüber verhalten: in der Schweiz lernen sie ganz selbstverständlich den jeweiligen schweizerdeutschen Dialekt, im Elsass praktisch nie, in Südwestdeutschland ist es die Ausnahme (vor allem in den großen Städten), kommt aber bei bestimmten Immigrantengruppen (besonders aus Italien) vor.

Wir untersuchen die Dialektsituation im deutschen Südwesten im Arbeitsbereich «Forschungsstelle Sprachvariation in Baden-Württemberg» an der Universität Freiburg schon seit 100 Jahren und dokumentieren dazu nicht nur die traditionellen Dialekte, sondern schauen uns auch den Sprachwandel an. In den vergangenen Jahren haben wir uns in einem Kooperationsprojekt mit der Universität Strassburg (dem dortigen Département de dialectologie alsacienne) besonders mit der Entwicklung an der deutsch-französischen Sprachgrenze am Rhein genauer beschäftigt und dazu die Dörfer auf beiden Seiten der Grenze anhand von Interviews mit älteren und jüngeren Menschen untersucht. Traditionellerweise wurden dort sehr ähnliche Dialekte gesprochen.

Wie zu erwarten, ist das heute nicht mehr so. Vielmehr ist der Rhein jetzt nicht nur eine Sprachgrenze (zwischen Deutsch und Französisch als Standardsprachen), sondern auch eine Dialektgrenze. Das liegt an den oben beschriebenen unterschiedlichen Sprachregimes in den beiden Ländern. Die starke Dominanz des Französischen und das Fehlen des Deutschen konservieren im Elsass zwar den alten Dialekt, verlagern ihn aber zugleich in eine gesellschaftliche Randposition. Verändert haben sich die alemannischen Dialekte auf der deutschen Rheinseite, denn sie geben unter dem Einfluss der deutschen Standardsprache immer mehr ihre spezifischen Merkmale auf. Anders als die schwiizerdüütschen Dialekte, die für die deutschen Dialekte nah der deutsch-schweizerischen Grenze eine Art Unterstützung darstellen, scheint der unterstützende Einfluss der sehr konservativen elsässischen Dialekte auf die grenznahen Dialekte in Deutschland nur gering zu sein.

Diese Entwicklung des Rheins zur Dialektgrenze hat auch damit zu tun, dass die Nähe zur Grenze keineswegs bedeutet, dass intensive Kontakte auf die andere Rheinseite häufig wären. Unsere Interviews zeigen: Viele Badener, die nicht weit weg von der Grenze leben, wissen nur wenig über das Elsass und haben auch nur wenig Bekannte oder Freunde dort. Und auch für die Elsässer dient die Fahrt über die Grenze meistens lediglich den Besorgungen des Alltags (Einkaufen) oder dem Besuch von Freizeiteinrichtungen. Sehr viel Gelegenheit zu vertieften sprachlichen Kontakten gibt es da nicht, es bleibt bei oberflächlichen Kontakten. Zudem sind die alemannischsprachigen Deutschen bei gelegentlichen Besuchen im Elsass oft darüber irritiert, dass in der Öffentlichkeit nur französisch gesprochen wird. Manchmal wird das als Ablehnung verstanden, wobei es doch nur die Rolle des Elsässischen im französischen Kontext reflektiert. Die Eintrittskarte in die Interaktion mit den Elsässern ist heute das Französische, das in Deutschland nur noch wenig gesprochen wird.

Sprachlich gesehen ist es also mit der gemeinsamen Identität der Euregio Oberrhein nicht weit her. Das Alemannische kann keine symbolische Wirkung für die Euregio insgesamt entwickeln, denn es wird nur in eingeschränktem Mass als grenzüberschreitende Gemeinsamkeit empfunden. Das Elsässische wird von den Elsässern nicht als Dialekt des Deutschen, sondern als eine Regionalsprache Frankreichs gesehen und entfaltet nur in dieser Hinsicht seine symbolische Kraft als Teil des kulturellen Erbes des Elsass. Die schweizerdeutschen Dialekte sind nationales Symbol der (Deutsch-)Schweiz. So wissen wir zwar im Dreiländereck alle, dass das Alemannische sich auch über die Nachbarländer erstreckt, aber es dient doch in allen drei Ländern, vor allem aber in Frankreich und der Schweiz, in erster Linie der eigenen Identitätsbildung.  

Mit der Carte Blanche bieten wir Fachleuten eine Plattform, auf der sie Impulse zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit geben und ihre Visionen zur Entwicklung im Dreiland darlegen können. Im Jahr 2021 veröffentlichen wir Beiträge zum Thema «Mehrsprachigkeit am Oberrhein – Kompetenz, Kultur, Kohäsion». 


Als PDF downloaden 

Retour