Carte Blanche

23 juin 2021

«Mehrsprachigkeit am Oberrhein – Kompetenz, Kultur, Kohäsion»

Mehrsprachigkeit ohne Grenzen – Vivre et communiquer in Biel/Bienne
Prof. Dr. Michael Ruloff, Leiter Berufspraktische Studien Sekundarstufe II, Pädagogische Hochschule, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW

Les Suisses allemands, les Alémaniques. Die Romands, die Welschen bzw. «Wäusche» (Berndeutsch). In Biel/Bienne, der zehntgrössten Stadt der Schweiz, leben sie zusammen. Ohne Sprach- und – im Gegensatz zu unserem Dreiland – ohne Landesgrenzen. Laut Angaben der offiziell bilingualen Stadt sind 57 Prozent der Bevölkerung deutschsprachig, 43 Prozent französischsprachig. Dies bezieht sich nur auf die Amtssprachen (Deutsch/Französisch). Auf den Strassen der multikulturellen Stadt sind grundsätzlich viele Sprachen zu hören.  

Zweisprachig sind Strassenschilder, Busdurchsagen und lokale Medien. Wie läuft die alltägliche Verständigung am Kiosk oder im Büro ab? Realistisch ist die folgende Variante: Man spricht und antwortet in der eigenen Sprache – auf Französisch oder Deutsch … bzw. Schweizerdeutsch. Letzteres birgt eine Herausforderung: Wer «francophone» und nicht «bilingue» sozialisiert wurde, sieht sich ggf. mit einem nicht bekannten Idiom konfrontiert. Die Schweizerdeutsche Seite «wechselt» dann im Gespräch – et on parle français, oder eben Hochdeutsch. Wer prinzipiell nicht in der Muttersprache und dafür mit Akzent kommuniziert, kann sich auch sehen lassen.  

Das zwei- oder mehrsprachige «Miteinander» hat in Biel/Bienne Tradition. Laut Historischem Lexikon der Schweiz beschloss die Stadt um 1840 – wohlbemerkt auf Antrag eines eingebürgerten deutschen Emigranten – Uhrenarbeiter aus dem Jura aufzunehmen. So sollte ein neuer Verdienst in die Stadt gebracht werden. Über 1'700 Uhrmacher kamen, die meisten mit französischer Muttersprache. Die Einwohnerzahl verdoppelte sich. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts kämpfte die Uhrenindustrie mit einer strukturellen Krise. Viele Arbeitsplätzen gingen verloren – und damit die dominante Stellung in der Stadt. Die Mehrsprachigkeit blieb.  

Bonjour, Grüessech, guten Tag – in Biel spricht man sich so an, wie es kommt. Die unterschiedlichen Sprachen gehören zum Selbstverständnis und zur Kultur. Mit Gerüchten, Sprüchen und Klischees, mit Spitznamen für die andere Sprachgruppe, mit Belehrungen zum Thema Pünktlichkeit, mit dem Rotwein nach der Arbeit. Mit Blick auf die «mehrsprachige Stadt ohne politische Grenzen» ergibt sich für das urbane Dreiland am Rhein ein greifbarer Rückschluss: Die Sprachreise darf, kann und soll (auch) im Alltag im öffentlichen Raum stattfinden – die (spontane) Begegnung mit der anderen Sprache beginnt im Tram, auf dem Schiff, am Markt und vor dem Museum. Im eigenen Land und bei den Nachbarn: Bonjour, guten Tag, guete Daag.

Mit der Carte Blanche bieten wir Fachleuten eine Plattform, auf der sie Impulse zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit geben und ihre Visionen zur Entwicklung im Dreiland darlegen können. Im Jahr 2021 veröffentlichen wir Beiträge zum Thema «Mehrsprachigkeit am Oberrhein – Kompetenz, Kultur, Kohäsion».  


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