Regio Basiliensis
25 septembre 2024
Anlassrückblick: «Der Weg der Schweiz – Integration oder Souveränität? Perspektiven der Nordwestschweiz»
Über 100 Teilnehmende folgten gespannt den Ausführungen und der Diskussion zu den Themen Neutralität und den Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) im Rahmen des Anlasses der Regio Basiliensis, welcher in Partnerschaft mit der Operation Libero, der Sektion Basel der Europäischen Bewegung Schweiz und der Vereinigung für eine Starke Region Basel/Nordwestschweiz organisiert wurde.
Einführung
Dr. Manuel Friesecke, Geschäftsführer der Regio Basiliensis, begrüsste die anwesenden Gäste und führte in die Thematiken der Souveränität, der Beziehungen Schweiz-EU und der besonderen Betroffenheit der Nordwestschweiz ein. Er betonte, dass die Globalisierung für viele Staaten unweigerlich zu einem Zielkonflikt zwischen nationaler Souveränität und internationaler Kooperation führe und wies darauf hin, dass etliche Herausforderungen sich nur durch internationale Zusammenarbeit bewältigen liessen. In der Schweiz hat sich der Zielkonflikt zwischen Öffnung einerseits und Souveränität andererseits in den letzten Jahrzehnten insbesondere in der Migrationsfrage manifestiert.
Für die Nordwestschweiz ist es von grosser Bedeutung, dass die Schweiz über geregelte und zukunftsfähige Beziehungen zur EU verfügt. Sie ist als Grenzregion auf vielfache Weise mit ihren europäischen Nachbarn verflochten. Das überdurchschnittliche Wirtschaftswachstum der letzten Jahre in der Region ist auch auf die bilateralen Abkommen zurückzuführen. Die trinationale Grenzregion ist ein gemeinsamer Lebens-, Wirtschafts-, Arbeits- und Forschungsraum mit mehr als 6 Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern und ist für mehr als 100 Mia. CHF an Exporten verantwortlich. Das entspricht über 40 Prozent des gesamten Schweizer Exportvolumens. Fast die Hälfte dieser Exporte werden in die EU geliefert. In der Nordwestschweiz sind die Pharma- und MedTech-Firmen sowie die Maschinenindustrie besonders stark. Genau diese Branchen sind unmittelbar von der bilateralen Erosion betroffen, insbesondere aufgrund der Nichtaktualisierung der Mutual Recognition Agreements (MRA).
Die Nordwestschweiz weist mit rund 70'000 Personen einen hohen Anteil an Grenzgängerinnen und Grenzgängern aus. Zusammen mit den in der Schweiz niedergelassenen Fachkräften haben sie einen bedeutenden Einfluss auf die Beschäftigungslage der Region. Die Aufrechterhaltung der Personenfreizügigkeit ist somit von grosser Wichtigkeit für die Nordwestschweiz. Der Forschungs- und Bildungsstandort ist ebenfalls betroffen: Die in der Nordwestschweiz ansässigen Bildungs- und Forschungseinrichtungen haben zwischen 2014 und 2020 knapp 300 Mio. CHF an Nettobeiträgen aus Horizon 2020 für die Forschung erhalten. Die Abkommen mit der EU haben somit eine grosse Bedeutung für den Forschungs- und Innovationsstandort mit verschiedenen namhaften Forschungseinrichtungen.
Impulsreferat «Die Schweiz und ihre Neutralität»
Im Anschluss an die Einführung hielt Prof. em. Dr. René Rhinow, Alt-Ständerat des Kantons Basel-Landschaft, ein Impulsreferat zur Neutralität. Er verwies darauf, dass bei der Ausarbeitung der ersten Bundesverfassung von 1848 es die Tagsatzung ablehnte, die Neutralität unter den Zwecken des Bundes anzuführen, da man nie wissen könne, ob die Neutralität einmal im Interesse der Unabhängigkeit aufgegeben werden müsse. Die Schweiz ist völkerrechtlich nicht zur Neutralität verpflichtet, das heisst sie kann diese aufgeben. Auch in der aktuellen Bundesverfassung von 1999 figuriert die Neutralität nicht unter den aussenpolitischen Zielen, sondern findet sich nur bei der Kompetenzregelung.
Gemäss Prof. em. Dr. René Rhinow habe die Schweiz in erster Linie eine auf die Bundesverfassung abgestützte Aussen- und Sicherheitspolitik zu führen. So habe sich der Bund für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und ihrer Wohlfahrt einzusetzen und namentlich beizutragen zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Dieses Verständnis, dass Aussenpolitik vor allem Neutralitätspolitik sei, schwinge in der aktuellen Diskussion über die Neutralität immer noch mit und verfehle damit auch die eigentliche Dimension der Aussenpolitik, die nicht primär die Neutralität zu schützen, sondern die ihr in der Bundesverfassung vorgegeben Ziele anzustreben habe. Es sei wichtig, in Erinnerung zu rufen, dass die Neutralität von den Siegermächten am Wiener Kongress 1815 anerkannt wurde, weil sie auch im Interesse Europas lag.
Das Neutralitätsrecht setze voraus, dass sich Staaten selbst verteidigen können und auch sollen. Deshalb das Diktum der «bewaffneten» Neutralität. Dass beinahe alle Nationalstaaten schon seit langem nicht mehr in der Lage sind, sich autonom zu verteidigen wurde aber in der schweizerischen Öffentlichkeit während langer Zeit verdrängt. Schliesslich übersteigen Konflikte rasch die militärische Dimension und dringen in andere existenzielle Politikbereiche ein, wie die aktuelle Entwicklung überdeutlich aufzeigt. Die wirtschaftliche Verflechtung, die Versorgung mit Gütern des täglichen Lebens und mit Rüstungsgütern übersteigt die nationalstaatliche, ja oft die kontinentale Dimension. Im europäischen und internationalen Umfeld wird die schweizerische Neutralität respektiert, aber kaum mehr verstanden, sowohl was ihre Bedeutung, aber auch was ihre Anwendung betrifft. Angesichts der geopolitischen Unsicherheiten ist vor einer übermässigen Verrechtlichung der Sicherheitspolitik zu warnen. Diese muss, so Prof. em. Dr. René Rhinow, primär in der Verantwortung des Bundesrates und der Bundesversammlung liegen. Er schlug deshalb vor, dass die Schweiz auf die Dauerhaftigkeit ihrer Neutralität verzichtet, und zu einer gewöhnlichen Neutralität übergeht unter dem Vorbehalt aussen- und sicherheitspolitischer Interessen der Schweiz.
Zum Schluss wies er darauf hin, dass hinter dem Thema der Neutralität die Frage nach der Stellung in Europa stehe und dass die aktuelle Diskussion dazu beitragen kann, über die Chancen einer selbstbewussten und aktiven Schweiz in Europa nachzudenken. Er empfehle eine aktive Aussenpolitik, die sich nicht hinter dem Mythos der Unabhängigkeit und dem schwammigen Begriff der Neutralität verstecken könne und forderte ein Bekenntnis zu einer aktiven Schweiz in und mit, nicht gegen Europa. Ganz nach dem Motto: «Unsere Heimat ist die Schweiz. Die Heimat der Schweiz ist Europa» (Peter von Matt).
Podiumsdiskussion
Unter der Leitung von Moderator Tobias Bossard, SRF-Korrespondent in der Region Basel, diskutierten Thomas Aeschi, Nationalrat des Kantons Zug und Fraktionspräsident der SVP, Sanija Ameti, Co-Präsidentin der Operation Libero, Prof. Dr. Astrid Epiney, Direktorin des Instituts für Europarecht der Universität Freiburg, Simon Michel, Nationalrat des Kantons Solothurn und CEO der Ypsomed Gruppe, sowie Dr. Stephan Mumenthaler, Direktor von scienceindustries, die aktuellen Fragestellungen.
Die Diskussion widmete sich intensiv den Fragen zur Neutralität. Thomas Aeschi wies darauf hin, dass es oberstes Ziel der Schweiz sein müsse, das Land vor einem Krieg zu bewahren. Sanija Ameti replizierte, dass die Neutralität in der Vergangenheit auch ein Geschäftsmodell gewesen sei und das Abseitsstehen keine Lösung sei. Dr. Stephan Mumenthaler ergänzte, dass die Mitglieder des Verbands scienceindustries sich an die Sanktionen hielten und dass die Politik die Regeln festsetze. Simon Michel wies auf die Notwendigkeit der Kooperationen der Schweizer Armee hin. Entsprechend wichtig seien gemeinsame Übungen im Rahmen der PESCO. [Anmerkung: PESCO bezeichnet hauptsächlich die Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten der EU, die sich in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik besonders engagieren wollen.] Prof. Dr. Astrid Epiney betonte, dass die Souveränität und die Neutralität schwammige Begriffe seien und dass dabei auch Elemente ausserhalb der Schweiz berücksichtig werden müssen.
Zum Thema Schweiz-EU erklärte Simon Michel, dass ein Schiedsgericht Rechtssicherheit gebe und dass Sanktionen schwierig zu bemessen seien und die entsprechenden Verfahren lange dauern. Prof. Dr. Astrid Epiney sagte ergänzend, dass ein Schiedsgericht auch im Interesse der Schweiz sei. Wer am EU-Binnenmarkt teilnehmen wolle, müsse die entsprechenden Regeln übernehmen. Thomas Aeschi kritisierte die Personenfreizügigkeit, die zu einer ungesteuerten Zuwanderung führe und die Sozialwerke belaste. Aus seiner Sicht sei der EuGH ein Gericht der Gegenpartei. Sanija Ameti widersprach und wies auf den Bedarf an Arbeitskräften in der Schweiz hin und dass der Wohlstand, der damit generiert werde, gewollt sei. Dr. Stephan Mumenthaler stimmte dem zu und wies auf das Demografieproblem der Schweiz hin. Mit der Personenfreizügigkeit kämen seiner Einschätzung nach mehrheitlich hochqualifizierte und gut integrierte Personen in die Schweiz. Thomas Aeschi wies auf die negativen Auswirkungen der Zuwanderung in den Bereichen Verkehr, Immobilien, Löhnen, Energie und Schulen hin. Das führe zu einem Teufelskreislauf. Für Simon Michel ist es wichtig, das Thema der Personenfreizügigkeit von den Themen Binnenmarkt und Asyl zu entflechten. Eine Option sei es, einseitig eine Schutzklausel zu definieren. Prof. Dr. Astrid Epiney hielt fest, dass eine solche einseitige Festlegung durch die Schweiz kein Verstoss gegen Völkerrecht sei. Sie erklärte weiter, dass mit den neuen Verträgen neu nach fünf Jahren Aufenthalt in der Schweiz ein Daueraufenthaltsrecht entstehen würde. Thomas Aeschi erwiderte, dass eine solche Schutzklausel nichts nützen werde und verwies auf die Stellenmeldepflicht als negatives Beispiel. Sanija Ameti schloss mit dem Hinweis, dass sich vor allem die Identitätsfrage der Schweiz stelle und ob wir uns als einen Teil von Europa sehen.
Schlusswort
Ständeratspräsidentin Dr. Herzog, Ständerätin des Kantons Basel-Stadt, betonte, dass die Schweiz eng mit der EU die Zukunft unseres Kontinents gestalte, und zwar mit allem, was uns stark mache: direkte Demokratie, Föderalismus, Sozialstaat und humanitäre Dienste. Weiter führte sie aus, dass die EU mehr sei als ein Wirtschaftsraum. Die EU sei zuallererst ein Garant für unsere Grundwerte und für Frieden. Aus ihrer Sicht ist ein baldiger Abschluss der Verhandlungen wichtig. Die Personenfreizügigkeit sei für die Schweiz zentral. Es sei notwendig, den Arbeitskräftemangel – und dabei gehe es nicht nur um Fachkräfte – auch in den kommenden Jahren mit Menschen aus dem europäischen Raum decken zu können. Sie zweifelt daran, ob es wirklich notwendig sei, mit der EU über eine Schutzklausel bei der Personenfreizügigkeit zu sprechen. Die Alterung der Bevölkerung ist ein Fakt: Wer ersetzt die älteren Leute auf dem Arbeitsmarkt und wer pflegt sie bei Krankheit und im Alter? Dr. Eva Herzog schloss mit dem Hinweis, dass eine Verständigung zur Neutralität erforderlich sei. Entsprechend müsse man über die Schweizer Neutralität diskutieren. Sie sei ein Instrument, das der Zeit und den Verhältnissen angepasst werden muss.
Weitere Ausführungen zum Anlass (PDF)
Foto (v.l.n.r.): Prof. Dr. Astrid Epiney, Sanija Ameti, Dr. Stephan Mumenthaler, Dr. Manuel Friesecke, Dr. Kathrin Amacker, Tobias Bossard, Prof. em. Dr. Rhinow, Dr. Eva Herzog, Simon Michel, Thomas Aeschi.